Humboldt-Universität zu Berlin - Gender und Globalisierung


Zwischen allen Stühlen – oder auf allen Hochzeiten?

Gender und Globalisierung


Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.5.2006




Eine Antrittsvorlesung ist ein besonderes Ereignis in einer wissenschaftlichen Biographie. Dieses besondere Ereignis möchte ich mit Ihnen in eher ungewöhnlicher Weise begehen. Dazu möchte ich Ihnen meine Freundinnen vom Rosenchor und unsere Chorleiterin Annunziata Matteucci vorstellen, die mich bei der Gestaltung des heutigen Abends unterstützen. Der Rosenchor übernimmt aber nicht einfach den Part der musikalischen Untermalung, quasi eine angenehme Beigabe, sondern er hat eine zentrale Rolle für die Gedanken, die ich Ihnen vortragen möchte.

Wenn wir wissenschaftlich arbeiten, dann arbeiten wir mit unterschiedlichem Material, entweder mit empirisch gewonnenen Daten oder statistischen Erhebungen, mit Literatur und Belegstellen, mit Bildern oder Filmen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Material, das durch die Schrift oder durch anderweitige Medien wie eben Filme oder Computer fixiert wurde. Mein Material heute Abend ist Musik, sind Lieder aus dem Mittelmeerraum, die von Frauen oder von Männern in bestimmten Situationen, bei der Feldarbeit oder bei der Ernte, bei Festen oder zu religiösen Anlässen gesungen wurden und werden.

Es sind Lieder, die zum großen Teil eine lange Tradition haben und charakteristischerweise nicht aufgeschrieben sind, sondern sich durch die mündliche Weitergabe auszeichnen. Wenn wir diese Lieder aus dem Mittelmeerraum zu einer anderen Zeit und an anderen Orten singen können, dann aufgrund ethnomusikologischer Forschungen, einem Teilbereich der Ethnologie, der sich mit der Sammlung und Bewahrung des musikalischen Erbes befasst. Anstatt also auf Statistiken, Texte oder Bilder zurückzugreifen, sind die traditionellen Lieder und Gesänge, die der Rosenchor hier zur Aufführung bringt, mein Arbeitsmaterial.

Die Aufgabe, die ich hier an der Humboldt-Universität übernommen habe, ist eine anspruchsvolle Herausforderung. Ich habe mir nochmals den Ausschreibungstext für die Professur angeschaut und möchte Ihnen kurz den bunten Strauß an Wünschen und Erwartungen, die Sie mit dem Profil dieser Stelle verbunden haben, in Erinnerung rufen.

„Von dem/der Stelleninhaber/in wird erwartet, insbesondere folgende Gebiete in Forschung und Lehre eigenständig zu vertreten:

  • Methodische Grundlagen der Geschlechterstudien, insbesondere empirische Forschung, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik, Transdisziplinarität,
  • Zusammenhänge von race, class, gender und Postkolonialität aus international vergleichender Sicht,
  • Wandel der Geschlechterordnungen in agrarischen Kulturräumen, Transformations- und Strukturanpassungsprozessen,
  • feministische Entwicklungsökonomie und neue ökonomische Theorien des Haushalts,
  • Praxen der Politikberatung in internationalen Zusammenhängen.“

Sie werden verstehen, dass man sich mit einer solchen Stellenbeschreibung leicht zwischen allen Stühlen fühlen kann. Ich werde das Profil meines Fachgebiets in den kommenden Jahren in Richtung dieser Erwartungen weiter entwickeln und ich habe vor, auf all diesen Hochzeiten zu tanzen. Für meinen heutigen Vortrag werde ich das Spektrum jedoch nicht umfassend ausleuchten, ich habe mir vorgenommen, mich auf einige Aspekte zu beschränken, die mir interessante Perspektiven für meine zukünftige Arbeit zu eröffnen scheinen.

Dazu möchte ich Sie zunächst mitnehmen auf einen musikalischen Ausflug in den Mittelmeerraum, eine der Hochzeiten, auf denen ich bereits jetzt und auch zukünftig weiter tanzen werde. Die beiden Lieder, die wir nun hören werden, sind Lieder von italienischen Landarbeiterinnen und handeln vom Abschied von dem Geliebten und der Sehnsucht nach der Heimat. Sie wurden von meist jungen Frauen bei der Ernte in den Feldern Mittelitaliens bzw. bei der Arbeit in den Reisfeldern der Poebene gesungen.

MP3 amore mio AMORE MIO

MP3 a montesola A MONTASOLA

1.    Themen und Perspektiven



Ich möchte Ihnen nun schlaglichtartig andeuten, welche Richtung ich meiner Tätigkeit hier an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät in den nächsten Jahren geben werde. Dabei beziehe ich mich auf Themen und Perspektiven, die mich bereits früher beschäftigt haben und die ich an der Humboldt-Universität im Kontext der Geschlechterstudien weiter verfolgen und ausdifferenzieren möchte.

Zunächst ist das der größere Zusammenhang der räumlichen Entwicklung und raumbezogenen Forschung. Als Politikwissenschaftlerin interessieren mich die räumlichen Lebensverhältnisse und die Aneignung des Raumes durch die Menschen, die in ihm leben und ihn schaffen bzw. gestalten. Saskia Sassen (1991, 1996) spricht von den Globalisierungsprozessen als einem umkämpften Raum, a contested space, in dem sich hergebrachte territoriale Grenzen auflösen und neue Grenzziehungen und neue Akteurskonstellationen entstehen, die sich nicht mehr an nationalstaatlich definierten Räumen orientieren. Soziale Kämpfe um Anerkennung und Identität sind auch Kämpfe um Raum und räumliche Definitionsmacht. Fragen der Konstitution des Raumes, seiner Verfügbarkeit, seiner Gestaltung sind immer auch Gender-Fragen, da es dabei ganz materiell um geschlechtlich codierte Zuweisungen, Bewertungen, Hierarchisierungen, Ein- und Ausschlüsse geht. Die Neukonstitution von transnationalen Räumen durch globale Migrationsprozesse sind hier zur Zeit ein besonders fruchtbares Forschungsfeld.

Als zweiten Punkt meiner Erkenntnisinteressen möchte ich den konkreten Raumbezug meiner Forschungen hervorheben. In den vergangenen Jahren habe ich mich intensiv mit dem westeuropäischen Raum beschäftigt, ganz besonders mit Frankreich und hier wiederum mit Südfrankreich und dem Mittelmeerraum. Daraus ist auch die Fokussierung meines heutigen Themas entstanden. Das Mittelmeer ist ein faszinierender Forschungsgegenstand, weil man den Mittelmeerraum als contested space der Globalisierung ansehen kann. Hier treffen die Widersprüche zwischen Reichtum und Armut auf engstem Raum aufeinander, wie wir nicht erst seit den Ereignissen in Ceuta und Melilla wissen. Ökonomische und soziale Hierarchien zwischen erster, zweiter und dritter Welt, zwischen Industrie-, Transformations- und Schwellenländern, prallen – nicht selten gewaltförmig – aufeinander. Die Gegenüberstellung von Orient und Okzident, die ganz zentral auf Gender-Konstruktionen aufbaut, hat hier ihren Ausgangspunkt, und sie setzt sich fort in den postkolonialen Konflikten der Gegenwart.

Als eine besondere Herausforderung sehe ich es drittens an, zur Entwicklung von transdisziplinärer Forschung und Lehre beizutragen. Es wäre sicher falsch zu sagen, wir stünden hier noch am Anfang, viele Kolleginnen hier an der Humboldt-Universität arbeiten am und mit dem Konzept Transdisziplinarität. Dennoch denke ich, dass in der weiteren Ausformulierung transdisziplinärer Themen und der Anwendung transdisziplinärer Methoden noch ein großes und ausbaufähiges Arbeitsfeld vor uns liegt. Mein heutiger Vortrag soll einen Beitrag zu diesem Projekt leisten.


2.    Das Mittelmeer als contested space



„Was ist das, die mediterrane Welt? Tausend Dinge auf einmal. Nicht eine Landschaft, sondern unzählige Landschaften. Nicht eine Zivilisation, sondern viele Zivilisationen, eine auf die andere geschichtet. Im Mittelmeerraum reisen heißt, auf die römische Welt im Libanon treffen, auf eine prähistorische in Sardinien, auf griechische Städte in Sizilien, auf Spuren arabischer Anwesenheit in Spanien, solche des türkischen Islam in Jugoslawien. Es heißt, auf den Grund der Zeitalter hinabtauchen, bis zu den megalithischen Bauwerken auf Malta oder den ägyptischen Pyramiden. Es heißt, Altes und Uraltes, das noch lebendig ist, Seite an Seite mit höchst Neuzeitlichem finden: den ungeheuren Industriekomplex von Mestre neben dem scheinbar unverrückbaren Venedig, die Fischerbarke, die sich in nichts von dem Boot des Odysseus unterscheidet, neben einem Supertanker oder einem jener Hochseefangschiffe, welche die Meere plündern. Es heißt, sich in den archaischen Gehegen mediterraner Inseln verlieren und staunend die Vitalität sehr alter Städte zur Kenntnis nehmen, die allen erdenklichen Lebensentwürfen und dem Begehren nach Wohlstand offengestanden haben und die seit Jahrhunderten über das Meer wachen, sich von ihm nähren“, so der Historiker Fernand Braudel in dem 1985 auf Französisch erschienen Buch „Die Welt des Mittelmeers“ (Braudel 1990, S. 7f.).

Der Mittelmeerraum umfasst in seiner Sicht drei kulturelle Gemeinschaften mit verschiedenen Lebensstilen, Denkentwürfen und Alltagspraktiken. Er unterscheidet die christliche Welt des römischen Einflussbereiches, die islamische Welt Nordafrikas und des Nahen Ostens und das orthodoxe Universum der Balkanhalbinsel mit Rumänien, Bulgarien, Teilen des früheren Jugoslawien und Griechenland. Andere Autoren betonen eher die Gemeinsamkeit des religiösen Fundaments dieses Raumes, in dem die drei monotheistischen Buchreligionen, das Judentum, das Christentum und der Islam entstanden. Unabhängig davon, welche Bedeutung man nun den Religionen beimisst, die Mittelmeerszenerie ist, wieder mit den Worten Braudels, „eine aus Ungleichartigem zusammengesetzte Welt, die erst in unserer Vorstellung zu einem zusammenhängenden Bild sich fügt, wie in einem System, in dem das Unterschiedene zunächst vermengt und dann zu einer originalen Einheit neu verflochten wird“ (ebd., S. 9).

Der Mittelmeerraum ist historisch gekennzeichnet durch Armut und harte Lebensbedingungen in einem schwierigen geographischen Umfeld, was wir uns heute mit dem touristisch geprägten Blick nur noch ansatzweise vorstellen können. Landwirtschaft wurde zum großen Teil in Bergregionen auf terrassenförmigen Anbauflächen betrieben, deren Stützmauern immer wieder befestigt werden mussten, die dafür notwendigen Steine und die Erde für die Terrassen mussten mit Eseln auf die Hänge hinaufgeschleppt werden. Landwirtschaft war Handarbeit, kein Gespann konnte sich in den steilen Hängen bewegen, kein Karren konnte gezogen werden, Oliven wurden von Hand geerntet und Wein von Hand gelesen. Deshalb wanderten aus dem Bergland während Jahrhunderten die Tagelöhner, Ernte- und Weinlesehelfer, die eben auch häufig Erntehelferinnen waren, in die begüterten Gegenden.

Migration und großräumige Wanderung ist überhaupt ein Charakteristikum für die Mittelmeerregion: Migration aus den Bergen in die Städte, Pendelmigration zwischen den Städten und dem Land, um als LandarbeiterIn den Lebensunterhalt zu verdienen, Abwanderung in benachbarte Regionen, so von Korsika nach Südfrankreich oder zwischen Albanien und Apulien oder, wenn sich überhaupt keine andere Möglichkeit für ein Auskommen bietet, definitive Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert in die Industriezentren. Der Mittelmeerraum ist ein Bewegungsraum, ob zu Land oder zu Wasser, wobei die Schifffahrt lange Zeit vor allem Küstenschifffahrt war. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass die Odyssee so von einem Hafen zum nächsten, von einer Taverne zur anderen weitererzählt wurde.

Ähnliches kann man wohl auch für die Gesänge der Mittelmeerregion annehmen, weniger in bezug auf ihre großräumige Verbreitung als hinsichtlich der mündlichen Weitergabe von Generation zu Generation. Die harten Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft sind häufiges Thema der Lieder von Frauen und Männern, die als Tagelöhner und Saisonarbeitskräfte auf großen Landgütern unter schwersten Bedingungen gearbeitet haben. Wir hören jetzt ein Lied aus Sardinien, in dem diese Bedingungen beschreiben werden. Dort heißt es: „Seit wir auf dem Land geboren sind, arbeiten wir und vergießen unser Blut und unseren Schweiß. Was wir erarbeiten fließt in die Taschen der reichen Ausbeuter.“

MP3 da cannu semu nati DA CANNU SEMU NATI

Ist der Mittelmeerraum ein einheitlicher Raum, ein zusammenhängendes Bild, wie Braudel sagt? Über diese Frage streiten sich die Gelehrten. In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden die ersten Forschungen zum Mittelmeerraum in Frankreich von Marc Bloch und Charles Parain, die vergleichende Studien zum Leben von Bauern in Europa und dem Nahen Osten initiierten (Bloch 1931, Parain 1936). 1949 veröffentlichte Fernand Braudel sein zum Standardwerk avanciertes Buch „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“.

In den 50er und 60er Jahren beschäftigten sich zunehmend angloamerikanische Ethnologen mit dem Mittelmeer, zu nennen sind hier besonders Julian Pitt-Rivers und John Peristiany (Pitt-Rivers 1963, Peristiany 1965). So entstand das Feld der Mittelmeerstudien. In seiner Begründung für eine spezielle Anthropologie des Mittelmeerraumes, die Südeuropa, Nordafrika und den Nahen Osten einbezieht, schreibt Pitt-Rivers 1963: „Die Lebenszusammenhänge im Mittelmeerraum besitzen mehr Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Ländern und mehr Differenzen innerhalb ihrer nationalen Grenzen als die Grundüberzeugungen des modernen Nationalismus uns glauben machen wollen“ (Pitt-Rivers 1963, S. 19; zit. nach Albera/Blok 2001, S. 18). Er plädiert für eine Forschungsperspektive der Unterschiede und der Vielfalt statt einer Orientierung an nationalen Kulturen und illustriert dies am Beispiel von Nordspanien und Südspanien.

Über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren publizierten Pitt-Rivers und Peristiany über den Mittelmeerraum zu den Themen Familie, Verwandtschafts-beziehungen, Gastfreundschaft und den Komplex von Scham und Ehre (Pitt-Rivers 1963, Peristiany 1965, 1968, 1976, Peristiany/Pitt-Rivers 1992). Auf diese Thematik werde ich gleich noch genauer eingehen.

Als Gemeinsamkeiten einer speziellen Mittelmeerkultur stellt Louise Sweet 1969 strukturelle, ökologische und kulturelle Ähnlichkeiten heraus, z.B. die vorindustriellen Stadtstaaten, den städtischen Charakter bäuerlichen Lebens in Landstädten, den sog. Agrotowns, die Dominanz großer Landgüter zur Getreideproduktion und die Herdenwirtschaft (vgl. Albera/Blok 2001, S. 18). Zahlreiche Autoren und Autorinnen verweisen auf geographische Gemeinsamkeiten wie das ähnliche Klima, die weitgehend gebirgige Struktur der Küsten und die Flora und Fauna wie Wein, Oliven, Getreide, Schafe und Ziegen. Sweet erwähnt ebenso als übergeordnetes Merkmal einer einheitlichen Mittelmeerkultur die Geschlechtertrennung und die Unterordnung von Frauen, ein Thema, das sich durch fast alle Publikationen über den Mittelmeerraum zieht und das als besonderes Charakteristikum für Lebensformen auf beiden Ufern des Mittelmeers herausgestellt wird. Die Betonung der Jungfräulichkeit und der sexuellen Zurückhaltung der Frauen sowie ihr Ausschluss aus dem öffentlichen Raum sind ein zentrales Thema des „Scham-und-Ehre-Komplexes“.

Im Anschluss an die Forschungen zur kulturellen Einheitlichkeit des Mittelmeerraumes beginnt in den achtziger Jahren die kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept, inspiriert durch postmoderne, antiessentialistische und antiorientalistische Zugänge. Die Einheitlichkeit des Mittelmeerraums wird als ethnozentrische und exotisierende Konstruktion von englischsprachigen Anthropologen aus dem Norden dekonstruiert. Insbesondere der „Scham-und-Ehre-Komplex“ als Hauptindikator für kulturelle und soziale Einheitlichkeit steht dabei zur Disposition. Ich werde nun etwas genauer auf diese Thematik eingehen.

3.    Der „Scham-und-Ehre-Komplex“



In dem 1965 erschienenen Buch „Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society“ formulieren John Peristiany und Julian Pitt-Rivers den Komplex von Ehre und Scham als übergreifendes kulturelles und soziales Ordnungsmuster im Mittelmeerraum. Die binäre Opposition von Ehre und Scham sind danach geschlechtlich kodiert: Die Integrität des familialen Zusammenhalts wird über die Jungfräulichkeit unverheirateter Frauen und ihre sexuelle Zurückhaltung nach der Heirat aufrecht erhalten. Der Historiker Maurice Aymard (1990) führt die Konstruktion von Scham und Ehre entlang der Geschlechterordnung darauf zurück, dass der Familienzusammenhang auf der patrilinearen Abstammung basiert und sich nur durch strenge Endogamie die Zersplitterung und Streuung des Besitzes von Familie bzw. verwandtschaftlicher Gruppe verhindern lässt. Kontinuität von familialer Linie und Besitz können allein die Söhne sichern, woraus sich die männliche Vorherrschaft über Frauen erkläre, die nicht auf die islamische Welt beschränkt, sondern für den ganzen Mittelmeerraum typisch sei.

Die Anthropologin Jane Schneider entwickelt in einem Aufsatz von 1971 eine materialistische Erklärung für den Scham-und-Ehre-Komplex (Schneider 1971). Sie führt seine Entstehung auf die Konkurrenzverhältnisse im ländlichen Raum des Mittelmeers zwischen der landwirtschaftlichen Ökonomie sesshafter Bauern und der weidewirtschaftlichen Ökonomie von Hirtengesellschaften zurück. Sie konkurrierten um die gleichen knappen Ressourcen Land und Wasser. In Abwesenheit physischer Grenzen und staatlicher Organisation entwickelten wandernde Hirten und sesshafte Bauern ihre eigenen Mittel sozialer Kontrolle, nämlich die Codices von Scham und Ehre. Die Konstruktion des Ehre sichere die Identität von Familie und Verwandtschaft sowie die Verbindlichkeit der familialen Beziehungen und die Loyalität potentiell abtrünniger Gruppenmitglieder. Aufgrund nicht vorhandener physischer Grenzen definiere die Ehre soziale Grenzen und diene somit der Verteidigung gegen die Ansprüche konkurrierender Gruppen (ebd., S. 4, 17).

Was aber, so fragt Jane Schneider, passiert, wenn der Gruppenzusammenhalt instabil ist oder keine langfristigen gemeinsamen ökonomischen Interessen mehr hat? Dann verlagere sich das gemeinsame Interesse auf die Frauen. Die Söhne, die sie gebären, garantierten die Stabilität der Gruppe, und in gewisser Weise würden die Frauen so zu umkämpften Ressourcen wie Weideland oder Wasser (ebd., S. 18). Der Status einer Frau definiere den Status aller Männer, die mit ihr in Beziehung stünden. Was ihr zustoße übertrage sich auf den Status der Männer, deshalb müssten sie ihre Jungfräulichkeit schützen. Sie wird ein Teil des familialen Besitzes, ihr Verhalten definiere die Ehre der jeweiligen sozialen Gruppe. Der “Scham-und-Ehre-Komplex“ diene als ideologisches Setting, um Machtverhältnisse zwischen sozialen Gruppen zu definieren und Ordnung in der Gesellschaft zu stiften.


Ob die Sichtweise der Autorin berechtigt ist, ob ihre Darstellung „wahr“ ist oder zur Diskursproduktion im „Scham-und-Ehre-Komplex“ beiträgt soll dahin gestellt bleiben. Ich möchte jedoch daran anschließend eine epistemologische Frage aufwerfen. Wenn wir in dieser Darstellung die Konstruktion der Geschlechterordnung und ihre Deutung als soziales Machtverhältnis zwischen konkurrierenden Gruppen sehen, betreiben wir dann Gender-Forschung? Und wenn wir darin die Konstruktion der Geschlechterordnung und ihre Deutung als soziales Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen sehen, betreiben wir dann feministische Forschung?

Ich lasse die Frage offen und möchte statt einer Antwort die Frauen aus dem Mittelmeerraum zu Wort kommen lassen, deren Lieder uns eine Sichtweise vermitteln, die in der Literatur zum Scham-und-Ehre-Komplex überhaupt nicht aufscheint. Die Musikethnologin Tullia Magrini spricht sich deutlich gegen die ideologischen Konstruktionen und Stereotypisierungen des, wie sie es nennt, „Scham-und-Ehre-Syndroms“ (Magrini 1998) aus, das zu einem Gemeinplatz der Mittelmeeranthropologie geworden sei. Man finde in der anthropologischen Literatur überall das Bild der stillen, passiven, marginalen Frau, in ihr Haus eingeschlossen, von Kopf bis Fuß verhüllt, um ihren Körper zu verstecken und offensichtlich mit nichts anderem beschäftigt als ihre Bescheidenheit und Zurückhaltung auszustellen. Die Lieder der Frauen jedoch sprächen eine ganz andere Sprache und kommunizierten eine andere Lebenswirklichkeit.

Der Rosenchor singt zwei Lieder, die die Sicht der Frauen zum Ausdruck bringen und die sich auf ihre eigene Weise mit dem Scham-und-Ehre-Komplex auseinander setzen. Zunächst Addio Morettin: „Tschüss Morettin, ich verlasse Dich, die Saison ist vorbei, zuhause hab ich einen anderen Geliebten, der viel schöner ist als du. Die Liebe der Piemontesi ist von kurzer Dauer, die Saison ist vorbei und das Liebemachen auch. Ich werde dich lieben und mein Herz wird seufzen, aber sterben werde ich nicht wegen Dir.“

MP3 addio morettin ADDIO MORETTIN

MP3 a sento il fischio del vapore SENTO IL FISCHIO DEL VAPORE

Während das erste Lied den kurzfristigen Lover nach der Erntezeit frivol zum Teufel schickt, ist das zweite Lied ambivalenter: „Mein Geliebter hat das Schiff nach Albanien genommen, wer weiß, wann er wieder kommt. Er wird im Frühling zurückkehren mit blutbeschmiertem Schwert, und wenn er mich dann verheiratet wiederfindet – welches Leid, welcher Schmerz. Oh welches Leid, welcher Schmerz, was für ein wildes Tier ist doch die Liebe. Eher würde ich ohne Essen leben als ohne Liebe zu machen. Ich will Liebe machen morgens und abends bis zum Frühling. – Der Frühling ist da, aber mein Liebster hat mich verlassen. Ich wurde ins Kloster gesperrt und sie haben mir die Haare abgeschnitten, sie waren blond und lockig und schön – sie haben mir meine Schönheit abgeschnitten.“

In diesem Lied kommt etwas zum Vorschein von der Ambivalenz der Frauen zwischen den sozialen Regulierungen des Geschlechterverhältnisses und seinen normativen Implikationen für das sexuelle Verhalten der Frauen und ihrem tatsächlichen Verhalten bzw. ihrem Begehren. Inwiefern die Konsequenzen dieses Verhaltens real waren oder abschreckende Wirkung auf junge Frauen haben sollten, konnte ich bisher nicht eruieren. Ich würde jedoch vermuten, dass die Drohung der sozialen Exklusion nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.

Festhalten möchte ich, dass die Lieder, die wir gehört haben, von Landarbeiterinnen gesungen wurden, also von Frauen, die in der sozialen Hierarchie einen eher niedrigen Status einnehmen. Wir hören jetzt eine Ballade, die einen anderen sozialen Kontext anspricht, das Schicksal von Donna Sisilia.

MP3 sisilia SISILIA
 
Donna Sisilia ist eine adlige Dame, deren Mann im Gefängnis eingesperrt ist. Um ihn dort besuchen zu können, muss sie einen Handel mit dem Capitano eingehen, wahrscheinlich ein reicher Gutsbesitzer, der auch über politische Macht verfügt. Er verlangt von Donna Sisilia, dass sie eine Nacht mit ihm verbringen muss, wenn sie ihren Mann im Gefängnis besuchen möchte. Sie berichtet ihrem Mann von dem Ansinnen des Capitano, der mit der Erpressung einverstanden ist, wenn dadurch sein Leben gerettet werden kann. Sisilia verbringt die Nacht mit dem Capitano und erwacht um Mitternacht aus unruhigem Schlaf. Als sie am Morgen aufsteht, sieht sie ihren Mann erhängt am Galgen. Darauf bringt sie sich um.

Das Lied existiert in mehreren Versionen und in mehreren italienischen Regionalsprachen, unser Chor kennt allein drei Versionen dieser irritierenden Geschichte. In der gerade gehörten Version ist Sisilia eine adlige Dame, in einer anderen ist sie eher als Frau von niedrigerem Stand gezeichnet. Während sie in dieser Version dem Capitano eher unterwürfig und ängstlich begegnet, tritt sie in einer anderen Version, die auch eine völlig andere Musikalität hat, eher selbstbewusst und provokant auf. Aber die Geschichte ist immer die gleiche: Um ihren legitimen Mann zu retten, muss die Frau eine Nacht mit einem anderen Mann verbringen, der Macht über sie und ihren Mann hat. Zunächst findet also eine Demütigung des statusniedrigeren Mannes durch den Mächtigeren statt, indem dieser über den Körper seiner Frau verfügt – im Übrigen mit dessen Wissen und Einverständnis. Im Liedtext wird auch das Thema der Ehre angesprochen, interessanterweise geht es dabei nicht um die Ehre des Mannes, sondern um den Verlust der Ehre der Frau, die der legitime Mann nach Verlassen des Gefängnisses jedoch durch seine Präsenz wiederherstellen will. Den doppelten Betrug – die sexuelle Erpressung und die Ermordung ihres Mannes – kann Cecilia nicht überleben.

Hier wird der Scham-und-Ehre-Komplex, so er tatsächlich etwas über das Geschlechterverhältnis aussagt und nicht nur eine Konstruktion angloamerikanischer Ethnologen ist, durch die Klassenstruktur überlagert, die sich quer zur Geschlechterordnung legt und sie durchkreuzt. Oder anders gesagt: das Geschlechterverhältnis dient als Instrument der Herrschaft im Klassenverhältnis. Wir können die Geschichte der Cecilia also auch als Illustration von Interdependenzen oder Intersektionalität lesen.

4.    Räumliche Organisation und Geschlechterverhältnis



Der Scham-und-Ehre-Komplex geht einher mit der Separierung der Geschlechter, die sich sowohl in den Normierungen sozialen Verhaltens als auch in räumlichen Zuweisungen manifestiert. Hier kommt der Raumstruktur der Mittelmeerregion eine zentrale Rolle zu. Besonders bedeutsam ist dabei die räumliche Organisation von Stadt und Land. Maurice Aymard sagt es prägnant: „Der mediterrane Mensch, Landwirt wider Willen, ist ein Städter“ (Aymard 1990, S. 122). Nach seiner Ansicht verdankt der Mittelmeerraum seine Einheit „weit mehr noch als dem Klima, der Geologie, dem Relief (...) einem Netz von Städten und Ortschaften, das sich schon früh bildete und erstaunlich langlebig war“ (ebd., S. 123). Bereits im 8. Jahrtausend gab es am Mittelmeer nicht nur Dörfer und Weiler, sondern Städte wie Jericho und Çatal Hüyük mit mindestens zweitausend Einwohnern. Mit der neolithischen Umwälzung und der Sesshaftwerdung beginnt die Landwirtschaft, und zwar nicht im Flachland, sondern in den höheren Regionen am Rande der syrische Wüste, auf den Hochebenen Anatoliens und des Iran.

Die städtische Lebensform wird in der Folgezeit zu einem Charakteristikum des Mittelmeerraums, die Menschen leben, auch wenn sie noch so arm sind, in Gruppen: „Tausend Leute, die ein kärgliches Auskommen in den Produkten ihres Bodens und im Handel mit ihnen finden, das reicht im Mittelmeerraum für eine Stadt aus“, so Aymard (ebd., S. 124). Wie ist diese Siedlungsform, die sogenannten Agrostädte, zu erklären und wodurch zeichnet sie sich aus? Der Wein- und Gartenbau sowie der ertragreiche Getreideboden im Flachland und auf den Hochebenen ist in der Hand von Großgrundbesitzern, die die Bauern vertreiben, sobald sie versuchen, sich dort niederzulassen. Lediglich für die Ernte werden sie als gering bezahlte Hilfskräfte in der Landwirtschaft zugelassen. So leben in den Städten die Wanderarbeiter auf Zeit, die zur Weinlese, zur Getreide- oder Olivenernte weite Wege zurücklegen, die von Tagesanbruch bis spät abends arbeiten und unter freiem Himmel schlafen.

Nach Ansicht der Historiker ist die geschlechtliche Arbeitsteilung und die geschlechtlich codierte Zuweisung von Räumen ein wesentliches Kennzeichen der Agrostädte. Die Arbeit auf dem Feld und generell in der Landwirtschaft sei Männerarbeit gewesen, in die Zuständigkeit der Frauen fiel die Hausarbeit, die Zubereitung der Nahrung, das Brotbacken, Wasserholen, das Wollespinnen und Kleiderweben, die Geflügel- und Kleintierhaltung. Lediglich bei Arbeitskräftemangel oder zur Erntezeit seien die Frauen zum Teil in ganzen Frauenarbeitstrupps für bestimmte Arbeitseinsätze angeworben worden. Inwiefern diese Darstellung eine Interpretation vom Standpunkt der bürgerlichen Familienkonstellation ist und ob sie tatsächlich der historischen Lebensrealität von Frauen und Männern entspricht, sei einmal dahingestellt.

Dieser Blick auf die Geschlechtsspezifik der Arbeitsteilung gilt als Grundlage für die Zuweisung und Aneignung von Räumen in der Agrostadt entlang der Geschlechterlinie. Der öffentliche städtische Raum wird von zwei Seiten her definiert, einmal vom Haus her, dem Ort der Ruhe, des Rückzugs, der geschlossene, geschützte Raum, der Raum der Frauen, und einmal vom offenen Raum her, von der Landschaft, dem Ort der Natur und der Arbeit – die androzentrische Sicht auf die Arbeit im Haus als Nicht-Arbeit ist uns aus Gender-Perspektive nicht unbekannt. So wird der städtische öffentliche Raum zum Raum, in dem nicht gearbeitet wird. Er ist der Raum der Rituale, der Feste, der Freizeit und des Zeitvertreibs. Dieser öffentliche Raum ist „das Terrain der Männer, Recht und Pflicht zugleich, denn ein Mann ist nur, wer sich den Blicken der anderen aussetzt, sie herausfordert und sich ihnen stellt“ (ebd., S. 138).

Die öffentliche Sichtbarkeit der Männer und ihre Präsenz im öffentlichen Raum korrespondiert mit der Unsichtbarkeit der Frauen. Diese Unsichtbarkeit – und zwar sowohl ihre Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum wie auch die Unsichtbarkeit durch die Verhüllung des Körpers – ist vom 17. Jahrhundert an ein durchgängiges Thema in jedem Bericht von Europäern, die Süditalien, den Balkan, den Nahen Osten oder den Maghreb bereisen – und das bis heute.

Inwieweit die soziale und räumliche Trennung der Geschlechter gleichbedeutend ist mit der Unterordnung der Frauen unter männliche Herrschaft ist nach wie vor ein hochaktueller Streitpunkt. Einer feministischen Autorin, Daphne Spain, die die räumliche Geschlechtersegregation als Diskriminierung der Frauen interpretiert (Spain 1992), wirft David Gilmore vor: „She never even considers that men and women might derive pleasure from being alone with their own sex at some times” (Gilmore 2001, S. 115). In der Tat muss es irritieren, wenn die westliche Frauen- und Lesbenbewegung, die jahrelang für autonome Frauenräume gekämpft hat, muslimischen Frauen die Geschlechtersegregation vorwirft.

Eine weitere Perspektive bringen wieder die Lieder aus dem Mittelmeerraum ans Licht. Auf Korsika und auf Sardinien gibt es klare Trennungen zwischen den Gesängen der Frauen und den Gesängen der Männer. Polyphone Gesänge sind dort traditionell ausschließlich den Männern vorbehalten, die Gesänge der Männer sind vielfältiger, ihre Gesangsanlässe zahlreicher. Die Gesänge der Frauen beschränken sich hauptsächlich auf Klagegesänge und Wiegenlieder (Bithell 2003, S. 34). Damit erfolgt auch eine Zuschreibung von Gesangsanlässen, sie sind mit der Zuständigkeit der Frauen für die rites de passage, für den Grenzbereich zwischen Leben und Tod verknüpft.

Männer singen im öffentlichen Raum, bei geselligen Anlässen, bei Festen, in der Bar, und beim Schafehüten in den Bergen und bei liturgischen Anlässen, insbesondere während der Prozessionen in der Karwoche. Wir hören gleich eine Paghiella, in früheren Zeiten die bevorzugte Form des Singens von Schäfern, die lange Nächte in den Bergen mit gemeinsamen Gesängen verbrachten. Die Paghiella ist Ausdruck von fröhlicher Gemeinsamkeit und Entspannung während Familienzusammenkünften, Jagdfeiern, Heiligenfesten oder eben der Hirtenwanderung in den Bergen. Die Liedform der Paghiella zeichnet sich durch die Kürze des Textes aus, kombiniert mit der Herausforderung der musikalischen Improvisation und dem hohen Anspruch an die stimmlichen Fähigkeiten der Sänger. Die Musikwissenschaftlerin Caroline Bithell zitiert einen korsischen Informanten mit den Worten: „Alles was man für eine Paghiella braucht sind dreißig Sekunden guter Dichtung und mehrere Stunden Improvisation“ (ebd., S. 37). Entsprechend ist der Inhalt der nun folgenden Paghiella schnell erzählt. Ich warte jeden Morgen auf die Ankunft des Briefträgers und auf einen Brief von meiner Liebsten.

MP3 paghiella PAGHIELLA
 
Historisch war polyphoner Gesang in Korsika fast ausschließliche Angelegenheit der Männer. Das Singen einzelner Frauen mit Gruppen von Männern, zum Beispiel bei Festen, galt als Transgression der Geschlechtsidentität und wurde entsprechend ambivalent bewertet. In den sechziger Jahren ging die Tradition des Singens aufgrund der veränderten Lebensbedingungen und der massiven Auswanderung erkennbar zurück und gewann erst wieder im Zuge des kulturellen Revivals innerhalb der nationalistischen Bewegung an Bedeutung. Gleichzeitig begannen auch ausschließlich weiblich zusammengesetzte und gemischte Gruppen, das traditionell männliche Repertoire öffentlich zu singen und Plattenaufnahmen einzuspielen. Besondere Bedeutung hatten dabei die Aufnahmen und Auftritte der Bulgarischen Stimmen – in Bulgarien werden polyphone Gesänge allein von Frauen gesungen, was die hergebrachte Auffassung in Korsika, Frauen könnten oder sollten nicht singen, ins Wanken brachte. Durch den wachsenden globalen Musikmarkt, insbesondere den Markt für „Weltmusik“, haben sich die Zuschreibungen verändert, und korsische Frauenchöre finden international inzwischen großen Anklang, während sie allerdings auf Korsika selbst weniger hoch geschätzt werden.

Oberflächlich betrachtet reproduzieren die traditionellen Gesänge der Männer im öffentlichen Raum und die traditionell von Frauen gesungenen Lieder, also Wiegenlieder und Klagegesänge, die Trennung von Zuständigkeiten und Kompetenzen in räumlichen Kategorien. Allerdings versieht Caroline Bithell diese Interpretation mit einem Fragezeichen. Sie verweist darauf, dass es zwei unterschiedliche Formen der Klagelieder gibt, solche, die anlässlich eines natürlichen Todes und solche, die anlässlich eines gewaltsamen Todes gesungen wurden. Die letzteren sind hasserfüllte Verwünschungen der verfeindeten Familien und verspotten die Männer des eigenen Familienclans, wenn sie den Tod nicht sofort oder in der Zukunft rächen und damit die Familienehre wiederherstellen. Manchmal wird im Gesang selbst der Name des Familienmitgliedes benannt, der die Rache der Familienehre übernehmen soll. Und sogar in einem Wiegenlied singt die Großmutter dem Kind die Familiengeschichte vor und wünscht ihm, als erwachsener Mann zu den Waffen zu greifen und ein stolzer Bandit zu werden (Bithell 2003, S. 43).

Caroline Bithell kommt deshalb zu dem Schluss, Frauen besetzten traditionell zwar weniger häufig als Männer den öffentlichen Raum, sie seien deshalb aber keinesfalls stumm oder passiv. Die Texte der Lamenti zeigten, dass ihr politi-scher Einfluss nicht unterschätzt werden sollte (ebd., S. 42). Die Gesänge der Männer interpretiert sie in erster Linie als Ausdruck von Geselligkeit und kollektiver Harmonie. Durch das Singen, insbesondere das Singe von paghielle, würden freundschaftliche Bande unter Männern immer wieder neu geknüpft, während die Klagelieder der Frauen häufig in einem Klima bitterer Konflikte und Hass angesiedelt seien: „It is, then, not difficult to imagine that women in traditional Corsican society often held the strings of the ‚real life’ of the community (...) while their menfolk were off up the mountain singing paghielle“ (ebd., S. 44).

Man muss vielleicht nicht alle Einschätzungen der Autorin teilen, aber es wird an diesem Beispiel deutlich, dass mit dem Scham-und-Ehre-Komplex und sei-nen geschlechtlichen Zuweisungen die Komplexität sozialer Realitäten nicht ausreichend erfasst wird. Die meisten Autoren sehen die Frauen als Garantinnen der männlichen Ehre, ihre Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum und körperliche Verhüllung entsprechend als Ausdruck weiblicher Zurückhaltung, Keuschheit und Scham.

Gegen die Konstruktion des Scham-und-Ehre-Komplexes als durchgängiges Muster der Geschlechterbeziehungen im Mittelmeerraum wurden von verschiedenen Seiten Argumente vorgebracht. In ihrem Aufsatz „How do you Translate Pudeur?” argumentiert Vanessa Maher (2001) mit der Schwierigkeit der Übertragung von mentalen Konzepten in sprachliche Begriffe. Sie fragt sich, warum sie bei ihrer Feldforschung in Marokko Ende der sechziger Jahre so selten auf den Komplex von Ehre und Scham gestoßen sei. Einen der Gründe vermutet sie in der Tatsache, dass sie die meiste Zeit mit Frauen verbracht habe und verweist gleichzeitig darauf, dass Wissenschaflterinnen aus dem Nahen Osten, die wichtige Bücher über muslimische Frauen veröffentlicht haben, kaum über den Scham-und-Ehre-Komplex schreiben. Manche von ihnen sprächen von der Zurückhaltung der Frauen, dies aber nicht als einem dichotomen Gegenkonzept zur männlichen Ehre oder als Ausdruck unterdrückter weiblicher Sexualität.

Maher argumentiert, die Begriffe pudeur oder pudore, also Scham oder Schamgefühl, seien mit shame nicht angemessen übersetzt, da die romanischen Wörter, aber auch entsprechende arabische, keine vorrangig sexuelle Konnotation hätten, sondern sich vor allem auf ein Verhalten bezögen, das Diskretion, Zurückhaltung und Wahrung der Würde, von sich selbst und von anderen, verkörpere. Die Bedeutung von pudeur sei eine Verhaltensnorm in bezug auf die Kontrolle von Gesten, Sprachmodulation und Körpersprache und somit ein Interaktionsritual oder Körperpolitik im Foucaultschen Sinne (Maher 2001, S. 161, 169). Tatsächlich findet man im Robert als Definitionen von pudeur: 1. chasteté, modestie, pudicité – also Keuschheit, Bescheidenheit, Schamhaftigkeit – und als zweite Bedeutung „Gêne qu’éprouve une personne délicate devant ce que sa dignité semble lui interdire; délicatesse, discrétion, retenue“, d.h. Verlegenheit oder Zurückhaltung zur Wahrung der Würde. Pudeur ist nach Maher rituelles Verhalten, das soziale Beziehungen symbolisiert, Gefühle maskiert und als politische Strategie eingesetzt werden kann. Damit kommt Selbstdisziplin zum Ausdruck, auch angesichts sozialer Hierarchien und Machtverhältnisse.

Folgt man der Autorin, so lassen sich einige Gründe benennen, warum der Scham-und-Ehre-Komplex zum Gemeinplatz der Mittelmeerforschung aufsteigen konnte, sein empirischer Gehalt aber eher als marginal einzustufen ist. Zum einen sind es vorrangig männliche Ethnologen und männliche Informanten, die diese Thematik stark gemacht haben. Auch David Gilmore spricht von „wishful thinking“ in bezug auf die Diskrepanz zwischen seinen empirischen Beobachtungen und männlichen Idealisierungen über den „Platz von Frauen“ (Gilmore 2001, S. 114).

Zum zweiten lässt sich die Betonung des Scham-und-Ehre-Komplexes vom Bias der anglophonen Ethnologen aus dem Norden ableiten, die die ländlichen Gesellschaften des Mittelmeers als „archaische Inseln“ (Maher 2001, S. 167) gegenüber der modernen Staatlichkeit der Industrienationen konstruierten. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Feldstudien zum Scham-und-Ehre-Komplex in einer Zeit entstanden, in der in den meisten Ländern des Mittelmeerraumes autoritäre Regime herrschten. Algerien befand sich unter französischer Kolonialherrschaft, Spanien und Portugal waren faschistische Diktaturen, der Nahe Osten war von militärischen Auseinandersetzungen geprägt. Gerade diese autoritären Regime betonten die Werte und Normen von Männlichkeit, Ehre, männlicher Autorität einerseits und die weiblichen Tugenden sowie die Zuständigkeit der Frauen für Heim und Herd andererseits. Die politische Situation wurde von den Anthropologen in ihren Analysen überhaupt nicht berücksichtigt.

5.    Fazit und Perspektiven



Zur Erinnerung: Der Scham-und-Ehre-Komplex wurde als Charakteristikum angeführt, um die kulturelle Einheitlichkeit des Mittelmeerraumes zu betonen. Damit sollten Standpunkte überwunden werden, die die Unterschiede zwischen der nördlichen und der südlichen Küste, zwischen Christentum und Islam, zwischen Orient und Okzident betonten. Man kann die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, einen Untersuchungsgegenstand „Mittelmeer“ zu konstituieren über die internen Differenzierungen hinweg. Wird dadurch nicht zwangsweise und unausweichlich Homogenität konstruiert, wo keine vorhanden ist? Wenn es diese Einheit nicht gibt, welches sind dann die kleineren Einheiten, die darunter liegen, Europa und die arabische Welt, Südwesteuropa und Südosteuropa, der Maghreb und der Nahe Osten?

Auf der anderen Seite kann man mit Christian Bromberger und Jean-Yves Durand fragen: Faut-il jeter la Méditerranée avec l’eau du bain ? – Muss man das Mittelmeer mit dem Bade ausschütten? (Bromberger/Durand 2001).

Das Problem, so Dionigi Albera und Anton Blok in ihrer Einleitung zum fast 1000 Seiten umfassenden Sammelband „L’anthropologie de la Méditerranée“ von 2001, bestehe weniger im Konzept „Mittelmeerstudien“ als in der räumlichen Maßstabsebene. Je nach Maßstab bestehe das Risiko, metaphysisch, atomistisch, ethnozentrisch, essentialistisch, tautologisch, ideologisch oder politisch einseitig zu sein (Albera/Blok 2001, S. 22). Sie plädieren deshalb dafür, den Mittelmeerraum als wissenschaftliches Feld zu konzeptionalisieren, in dem sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede vorhanden sind, die vergleichende Perspektiven sinnvoll machten. Sie beziehen sich auf Derridas Begriff der „différance“. Abgeleitet von lateinischen Verb differre in seiner ursprünglichen Bedeutung von aufschieben, verschieben ist damit ein Verschieben im Raum und ein Aufschieben in der Zeit verbunden. Das Mittelmeer kann dann als Gewebe von Differenzen, die sich kontinuierlich neu formieren, gesehen werden. Albera und Blok formulieren zugespitzt: “Differences show us what we have to explain” (ebd., S. 24).

Die Mittelmeerregion stelle ein Forschungsfeld dar, das weder exotisch noch gänzlich vertraut sei. Sie bleibe ein Zwischenraum zwischen „hier“ und „dort“, zwischen „uns“ und „nicht-uns“: „Today, in a globalizing world, the Mediterranean may have a paradigmatic value since it exemplifies the blurring of distinctions between ‚us’ and ‚them’“ (ebd., S. 26). Man kann das Mittelmeer als Laboratorium sehen, das die epistemologischen Schwierigkeiten spiegelt, mit denen Wissenschaft heute konfrontiert ist.

In der verwirrenden Vielfalt widersprüchlicher globaler Prozesse, seien es ökonomische Interdependenzen des Welthandels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die Konstruktionen und Verwerfungen sozialer Identitäten oder die Rekonfigurationen transnationaler Räume unter postkolonialen Bedingungen, kann der Mittelmeerraum ein Bezugsrahmen für zukünftige transdizsiplinäre Forschung im Feld von Gender und Globalisierung sein, um diese epistemologische Herausforderung anzunehmen.

Transdisziplinäre Fragestellungen und Methoden sind eine notwendige Voraussetzung, um Differentes zu fokussieren, ohne Widersprüchliches zu glätten. Meine eigenen Erfahrungen mit Transdisziplinarität haben sich bisher manchmal so angefühlt, als säße ich zwischen allen Stühlen. Ich sehe jetzt im wissenschaftlichen und kollegialen Umfeld der Humboldt-Universität für mich die Chance, auf allen Hochzeiten zu tanzen.


Literatur


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  • Albera, Dionigi/Blok, Anton (2001): The Mediterranean as a Field of Ethnological Study. A Retrospective. In: Albera/Blok/Bromberger (dir.), S. 15-37
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  • Bromberger, Christian/Durand, Jean-Yves (2001): Faut-il jeter la Méditerranée avec l’eau du bain ? In: Albera/Blok/Bromberger (dir.), S. 733-756
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  • Gilmore, David (2001): Why Sexual Segregation? In: Albera/Blok/Bromberger (dir.), S. 111-131
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  • Magrini, Tullia (1998): Women’s “work of pain” in Christian Mediterranean Europe. In: Music & Anthropology 3: “Religion, Music and Gender”, http://www.muspe.unibo.it/period/ma/index/number3/ma_ind3.htm (Zugriff am 1.2.2006)
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  • Maher, Vanessa (2001): How do you Translate Pudeur? From Table Manners to Eugenics. In: Albera/Blok/Bromberger (dir.), S. 157-177
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